Neuseeland als Warnung


[ Zauberspiegel Wissenschaft Ideenfabrik ]


Geschrieben von Fee am 31. März 2004 11:33:21:

Als Antwort auf: OT ? Thema Bürgergeld geschrieben von Fee am 09. März 2004 10:54:42:

Die ZEIT 52/2000

Artikel von Wolfgang Uchatius
"Neue" Ökonomie
Das Neuseeland-Experiment

Vor fünfzehn Jahren befreite ein kleiner Staat seine Wirtschaft von
allen Fesseln.

Neuseeland wurde zum globalen Vorbild für Ökonomen und Politiker.
Umso erschreckender die Bilanz: Niedriges Wachstum, hohe Schulden,
neue Armut.

Fünf Jahre und vier Monate, bevor in Europa der Eiserne Vorhang fällt,
kommt die Freiheit nach "Polen". Sie kommt mit einem kleinen untersetzten
Mann, der Ende Juli 1984 ein bienenkorbförmiges Betongebäude betritt. Er
steigt in den Aufzug, fährt in den siebten Stock, geht in sein neues
Arbeitszimmer und schaut hinunter auf die Stadt zu seinen Füßen. Er sieht
Cafes, denen es nicht erlaubt ist, Stühle auf die Straße zu stellen, und
Restaurants, die zum Essen keinen Wein servieren dürfen. Er sieht graue
Verwaltungsgebäude, in denen Männer mit kurzen Hosen und krummen Beinen
sitzen und darüber entscheiden, ob es den Menschen im Land erlaubt ist,
Zeltstangen zu importieren.
Er sieht sein Heimatland, von Paragrafen gefesselt, vom Bankrott
bedroht. Er sieht Neuseeland. "Wie Polen!", denkt er sich. "Nur mit mehr
Sonne."

Der Mann heißt Roger Douglas. Er ist der neue Finanzminister, und er
beginnt diesen Job wie ein Chemiker: mit einem Experiment. Einem Experiment,
das auf der ganzen Welt noch niemand gewagt hat. Douglas macht aus
Neuseeland ein Soziallabor.
Er formt eine Gesellschaft, die wie keine andere von den Kräften des
freien Marktes regiert wird. So wird das kleine Land schnell zum Modell der
Globalisierungsepoche. An Neuseeland, schreiben Ökonomen und Journalisten,
könne sich der Rest der Welt ein Beispiel nehmen.

15 Jahre später ist das Experiment gescheitert. Im Herbst 1999 wählten
die Neuseeländer eine neue Regierung an die Macht. Und während sich im Rest
der Welt der Staat aus der Wirtschaft zurückzieht, macht sich diese
Regierung daran, die Marktkräfte zu schwächen. 15 Jahre waren genug. So wie
Chemiker heute wissen, wie Wasser und Natrium aufeinander wirken, so glauben
die Neuseeländer nun die Antwort auf eine Frage zu kennen, die sich die
Menschen heute überall stellen: Wie reagiert ein Land auf den unregulierten
Markt? Wird es reicher? Schöner? Hässlicher?

Neuseeland 1984, das sind 3,5 Millionen Menschen und zwei Inseln
zwischen Australien und dem Südpol, zusammen etwa so groß wie das
italienische Festland. Das sind Männer, denen es nichts ausmacht, tagelang
keinen Menschen zu sehen, aber jeden Tag hundert Hügel und tausend Schafe.
Das sind Menschen, die stolz darauf sind, dass ihr Land als der Geburtsort
des Wohlfahrtsstaates gilt. Dass es in Neuseeland keine Armen gibt und wenig
Reiche, aber viele Wohlhabende. "Achtzig Prozent der Neuseeländer hatten ein
eigenes Haus", sagt der Sozialhistoriker David Thomson von der
Massey-Universität in Palmerston North. Dazu oft noch ein Auto und ein Boot.
Das war der Unterschied zu Polen.

Allen war klar: So konnte es nicht weitergehen

Dass sie manchmal Monate warten mussten, bis der Staat das Telefon
montierte, fanden die zufriedenen Hausbesitzer nicht so schlimm. Der Staat
sorgte ja auch dafür, dass jeder Neuseeländer eine Arbeit bekam, 25.000
allein bei der Eisenbahn. Dort hatte zwar nicht jeder etwas zu tun, aber die
Leute hatten Jobs. Und der Staat hatte Schulden. Mitte der Achtziger sahen
die Neuseeländer ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wählten die
Labour-Partei an die Regierung, Roger Douglas wurde Finanzminister.

Der sagt von sich selbst, das Reden und Verhandeln sei seine Sache
nicht. Und wie er das sagt, mit knappen Worten und kleiner Geste, glaubt man
ihm sofort. Er war nie ein Mann für die Massen, keiner, dem sie zujubeln,
kaum dass er die Stimme hebt. Das Land hat er trotzdem verändert.

Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt fährt Douglas von der Hauptstadt
Wellington nach Norden in die Provinz. Dort steht er dann in einem anderen
Betongebäude, einem flachen diesmal, in einem Saal mit niedriger Decke und
blauem Teppichboden. Tische und Stühle haben sie nach draußen getragen, um
Platz zu schaffen für die 1200 Menschen, die ohnehin schon bis zu den Türen
hinausquellen.
Von den Bauernhöfen im Umland sind sie gekommen, von den Wiesen und
den Hügeln, haben sich die Erde von den Schuhen gekratzt und die
Sonntagssachen angezogen. Nun steht dieser kleine Mann vor ihnen, dieser
mittelmäßige Redner, und sagt ungerührt, er werde ihnen alle Subventionen
und Steuervergünstigungen streichen. Nicht langsam auslaufen lassen, sondern
streichen, von heute auf morgen. Die Subventionen für den Kunstdünger und
für die Weidezäune, für das Pflanzen von Bäumen, für die Aufzucht von
Schafen und Kühen, und für die Milch und die Wolle. Alles eben. Im
Durchschnitt 35 Prozent ihres Einkommens.

Die Bauern bekommen erst Angst, dann Wut. "Wir wollten ihm den Kopf
einschlagen", sagt Malcolm Bailey, der damals Ende zwanzig war und ein
kleiner Milchbauer aus der Kleinstadt Fielding, einer Stadt, die es nicht
gäbe ohne die Landwirtschaft. Hier verkaufen die Bauern ihre Tiere und ihre
Milch, hier gehen ihre Kinder zur Schule, und hier treffen sie sich manchmal
und reden über die kleine Unbill in ihrem eigentlich recht glücklichen
Leben.
Um dieses Leben fürchten sie jetzt. Wie ein Schatten steht Roger
Douglas über ihm, dieser Labour-Mann, den die Bauern ohnehin nicht gewählt
haben. Malcolm Bailey hat noch heute das Geschrei im Ohr, und im Kopf die
Erinnerung an die Leibwächter, die sich schützend vor den Finanzminister
stellten.

Die Bauern und ihr Einkommen schützte nun niemand mehr. Manche zogen
in die Stadt und kauften sich ein Taxi oder setzten sich im Supermarkt an
die Kasse. Ein paar schossen sich eine Kugel in den Kopf. Die übrigen
beschlossen zu kämpfen.

Den Bankrott vor Augen, entdeckten die Bauern den Unternehmer in sich.
Sie legten Farmen zusammen, teilten sich die Traktoren, vermieteten das
halbe Haus an amerikanische Touristen. Douglas schaffte nicht nur die
Subventionen ab, er strich auch die Zölle zusammen. So wurden wenigstens die
Maschinen aus dem Ausland billiger. Vor allem aber hatten die Bauern das
Glück, dass ihre Tiere im warmen Klima Neuseelands keinen Stall brauchen und
dass das Gras hier auch im Winter wächst. Das war ihr Wettbewerbsvorteil auf
dem Weltmarkt.
Nur einer von hundert Bauern ist Pleite gegangen. Auch Malcolm Bailey
hat sich durchgesetzt mit seinen Milchkühen. Irgendwann merkte er, dass er
nicht nur ein Talent für die Landwirtschaft hat, sondern auch für die
Politik. Einige Jahre war er Vorsitzender von Federated Farmers, dem
neuseeländischen Bauernverband, heute reist er im Auftrag der Regierung
durch die Welt und versucht andere Länder zu überzeugen, die Subventionen zu
streichen.

Die Bauern haben gelernt, wie Freiheit schmeckt

In Neuseeland, sagt Bailey, finde man heute kaum einen Bauern, der die
Uhr zurückdrehen wolle auf 1984. Manche haben weniger Geld, dafür haben sie
entdeckt, wie erhebend es sein kann, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie haben
gelernt, wie gut Freiheit schmeckt.

Roger Douglas, der Mann, der das alles in Gang brachte, sagt, er habe
Freude daran, Dinge zu bewegen. Er selbst bewegte vor allem sein Handgelenk.
Der Premierminister war auf seiner Seite. Im Parlament hatte die
Labour-Partei die absolute Mehrheit.
So saß Douglas in seinem Arbeitszimmer im siebten Stock des
Betonbienenkorbs und unterschrieb Verordnungen. Gesetzentwürfe.
Hausmitteilungen. Konzeptpapiere. Ein kurzes Kratzen auf dem Papier, und das
Land ist verändert. Spitzensteuersatz? Von 66 runter auf 33 Prozent.
Sonderabschreibungen? Streichen! Kapitalverkehrs- kontrollen? Streichen!
Preiskontrollen? Streichen! Importkontrollen? Streichen! Die Zentralbank?
Wird unabhängig! Der Zentralbankchef? Bekommt einen erfolgsorientierten
Arbeitsvertrag: Steigt die Inflationsrate über einen bestimmten Wert, wird
der Zentralbankchef entlassen! Die Staatsbetriebe, Telekom, Eisenbahn, die
Banken, Versicherungen? Verkaufen, alle verkaufen!

"Viele haben damals nicht verstanden, was eigentlich passiert", sagt
Jackson Smith, National Secretary der Gewerkschaft Amalgamated Workers.
Douglas überrannte das Land. "Blitzkrieg" nennt der neuseeländische
Wirtschafts- wissenschaftler Brian Easton die Methode, mit der Roger Douglas
bewies, dass man auch demokratische Länder mit ihren vielen
Partikularinteressen umkrempeln kann, wenn man es richtig anstellt.
Douglas selbst beschreibt seine Strategie so: "Man darf nicht
innehalten mit den Reformen, deine Gegner treffen dich viel schwerer, wenn
sie auf bewegliche Ziele feuern müssen."

Der das sagt, stammt aus einer alten Labour-Familie. Douglas' Vater
war ein strammer Sozialist, und er selbst hatte ähnlich angefangen. Er war
Buchhalter, bevor er in die Politik ging, glaubte an den Staat, bevor er
sah, wie staatsgläubige Politiker das Land dem Ruin entgegentrieben. So
verfiel er der liberalen Idee. Dem Glauben, dass die Menschen die Wirtschaft
am besten selbst organisieren, wenn man sie nur machen lässt.
Wie es der große Ökonom Adam Smith einst schrieb: Egal ob Arbeiter
oder Kapitalanleger, jeder werde bei seinen Entscheidungen "von einer
unsichtbaren Hand geleitet". Die unsichtbare Hand, das ist der freie Markt,
und dieser sorge dafür, dass es am Ende nicht nur einigen Einzelnen, sondern
der gesamten Gesellschaft besser gehe, weil die Wirtschaft effizienter
werde.

Als Douglas auch den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem deregulieren
wollte, tat das seinen Kabinettskollegen in der Labour-Seele weh. Die
Reformen gerieten ins Stocken.
Doch 1990 wählten die Neuseeländer eine neue, konservative Regierung
ins Amt. Die neue Finanzministerin setzte dort an, wo Douglas aufgehört
hatte. Sie kürzte das Arbeitslosengeld und die Sozialleistungen um bis zu 27
Prozent. Vor allem aber hob sie die Tarifverträge auf. Kein Unternehmer war
mehr an kollektive Arbeitsverträge gebunden. Überstunden- und
Wochenendzuschläge fielen weg. "Ein Unternehmer konnte zum Angestellten
sagen: 50 Prozent weniger Lohn, take it or leave it", sagt der deutsche
Betriebswirt Rolf Cremer, der die Business School der Massey-Universität
leitet.

Mitte der neunziger Jahre - die Neuseeländer waren längst durch mit
ihren Reformen, als sich in den Industrieländern des Nordens die Angst
ausbreitete, auf die Verliererstraße zu geraten. Verschuldet, verkrustet,
verkrampft, lautete die Diagnose vieler Wirtschaftswissenschaftler. Das
lenkte den Blick auf die beiden kleinen, immergrünen Inseln bei Australien
und löste Begeisterung aus. Endlich ein Land, das tat, was die Ökonomen
sagten. "Wäre das Wirtschaften eine olympische Disziplin, hätte Neuseeland
schon einen Haufen Goldmedaillen gewonnen", schrieb 1996 die International
Herald Tribune. Die amerikanische Heritage Foundation und das Wall Street
Journal bescheinigten der neuseeländischen Wirtschaft einen höheren
Freiheitsgrad als der ameri- kanischen. Journalisten, Minister, Delegierte,
Experten aus aller Welt machten sich auf den Weg nach Süden. Unisono
verkündeten sie: Mit Neuseeland geht es aufwärts.

Man kann das sehen. Wo in den großen Städten früher Stummelhäuser
standen, ragen jetzt Bürotürme in den Himmel. Vom siebten Stock des
Regierungsgebäudes kann man längst nicht mehr über Wellington schauen.
Verglaste Geschäfts- häuser versperren den Blick. Und noch immer wird
gebaut.
Im Süden Aucklands zum Beispiel, ein gutes Stück außerhalb der Stadt,
hat die Regierung gerade neues Bauland ausgewiesen. Bald werden dort
Arbeiter Beton anrühren, Kräne werden Stahlträger in die Höhe hieven.
Baustellen zeigen, dass sich etwas bewegt im Land. Nur, in welche Richtung?
Was da im Süden Aucklands entstehen soll, ist ein neues Gefängnis.

Fünf Jahre und vier Monate, bevor in Europa der Eiserne Vorhang fiel,
kam die Freiheit nach Neuseeland. Ein anderer Wind weht seitdem durchs Land,
und manche sagen, er sei angenehm frisch. Andere finden ihn schneidend kalt.
Indem die Regierung das Arbeitslosengeld zusammenstrich, wollte sie
die Arbeitslosen zwingen, sich Arbeit zu suchen. Mit dem Geld vom Staat
kommen sie seitdem nicht mehr weit, doch manche entschieden sich trotzdem
gegen einen Job, oder sie fanden keinen.
In manchen Wohnbezirken von Auckland oder Wellington gibt es
inzwischen keine Straße mehr, in der die Einbrecher noch nicht unterwegs
waren. In manchen Vororten derselben Städte haben sich Nachfahren der
Maoris, der neuseeländischen Ureinwohner, in Straßengangs
zusammengeschlossen. Black Power nennt sich eine der größten, nach
amerikanischem Vorbild.

Der erste Teil der Verheißung stimmte: Die Ungleichheit stieg

Seit 1984 ist die Kriminalität in Neuseeland drastisch gestiegen, der
Anteil der Inhaftierten an der Gesamt- bevölkerung hat sich mehr als
verdoppelt. Auch der Gini-Koeffizient hat sich sprunghaft erhöht.

Der Gini-Koeffizient ist eine Maßzahl für den Abstand zwischen den
oberen und den unteren Einkommens- schichten. In Neuseeland ist er in den
vergangenen Jahren von einem der niedrigsten auf einen der höchsten Werte
der industrialisierten Welt gestiegen. Das allein muss man nicht unbedingt
schlimm finden. Verzeichnet ein Wohlhabender einen Einkommensgewinn von
zwanzig Prozent und ein weniger Wohlhabender einen Zuwachs von zehn Prozent,
dann vergrößert sich zwar der Abstand zwischen Arm und Reich - aber beide
haben mehr Geld als vorher.
Auf genau diesen Effekt zielten die Reformen in Neuseeland ab. Die
Befreiung der unsichtbaren Hand, so die liberale Verheißung, werde zwar die
ökonomische Ungleichheit erhöhen. Gleichzeitig aber werde sie ein starkes
Wirtschaftswachstum schaffen, das auch den unteren Einkommensschichten Geld
in die Taschen spült.
Die Zeitungen würden vom Boom schreiben, und die Fotografen würden
Bilder schießen von den Businessleuten in den Bankentürmen und den dicken
Schiffen, die im Hafen Waren aus Neuseeland laden.

Tatsächlich laufen in Wellington oder Auckland gut frisierte Männer in
dunklen Anzügen zwischen den Hochhäusern hin und her. Im Hafen legen schwere
Containerschiffe an und nehmen Fracht auf. Und doch wusste Roger Douglas,
als er die Gesetzesentwürfe unterschrieb, dass er sich auf solche Bilder
nicht verlassen konnte. Entscheidend ist, wie viel Geschäft die Banken
machen, wie viele Schiffe in die Häfen kommen. Entscheidend sind die Zahlen,
die der Finanzminister Monat für Monat, Jahr für Jahr auf seinen Tisch
bekommt.

Die Zahlen sind eindeutig. Zwischen 1971 und 1984 war die
neuseeländische Wirtschaft noch um jährlich 1,5 Prozent gewachsen. Seit 1984
verzeichnet Neuseeland das niedrigste Wirtschaftswachstum aller OECD-Länder:
durchschnittlich 0,9 Prozent pro Jahr. Die Arbeitslosenquote stieg von 4 auf
6 Prozent. Die Auslandsschulden liegen über dem Bruttoinlandsprodukt.
In anderen Worten: Wäre das Wirtschaften eine olympische Disziplin,
hätte Neuseeland nicht einmal den Vorlauf überstanden.

Vor zwei Jahren sagte der Chef der neuseeländischen Zentralbank, der
Mann also, dessen Arbeitsplatz von der Höhe der Inflationsrate abhängt: "Die
Absicht der Reformen war nicht, eine abstrakte Theorie zu testen, sondern
die soziale und ökonomische Situation aller Neuseeländer zu verbessern."
Schon damals konnte er die Folgen der Reformen an jeder Ecke
besichtigen. Da sind die vielen neuen Restaurants und die Lebensmittelläden,
die rund um die Uhr geöffnet sind. Da sind die Bahnhöfe und Schulen draußen
auf dem Land, die geschlossen wurden, weil sie sich nicht mehr rentierten.
Da ist dieses Krankenhaus in Auckland, das sein Dach an den
Elektronikkonzern Sharp vermietet, dessen Reklame nun über der Stadt
leuchtet. Da ist diese Schule, die sich nach einer Transportfirma benannt
hat, um ihr Budget aufzubessern.

Und da ist dieser Teppichboden.

Gleich gegenüber einem der Bankentürme, sozusagen zu dessen Füßen, hat
in Auckland die Methodist Mission einige Räume bezogen. Büroräume vor allem,
aber auch diesen einen fensterlosen Raum, der so groß ist wie eine kleine
Turnhalle - eine Turnhalle mit Teppichboden.
Dieser Teppich war wohl einmal olivgrün oder braun, man sieht das
nicht genau, weil nicht klar ist, was Flecken sind und was die ursprüngliche
Farbe. Die Flecken kommen von verschütteter Suppe, von Essensresten. Aber
das scheint hier niemanden zu stören, weil das kein Restaurant ist, sondern
ein regensicherer Ort zur Nahrungsausgabe und -aufnähme.
Gegen Mittag kommen sie dann von der Straße herein, manche hell-,
manche dunkelhäutig, manche Gesichter verschwinden in weiten Kapuzen,
verfilzte Haare hängen unter Baseballmützen hervor. Die Hosen und Jacken,
die sie tragen, haben vor ihnen schon anderen gehört. Es ist der
internationale Einheitslook der Obdachlosen.

Noch immer gibt es in der Millionenstadt Auckland weniger Obdachlose
als in den Großstädten anderer Industrieländer. Nur dass es sie in
Neuseeland früher überhaupt nicht gab. Und dass sie sozusagen dem sozialen
Trend vorauseilen.
Seit 1984 sind die Einkommen der unteren 50 Prozent der
neuseeländischen Bevölkerung gesunken. Lediglich die oberen 20 Prozent haben
deutlich dazugewonnen.

Wie konnte das passieren?

Das Verstörende am Neuseeland-Experiment ist weniger die Tatsache,
dass es Neuseeland ökonomisch nicht so gut geht. Vielen Ländern geht es noch
schlechter.
Was die jüngere neuseeländische Geschichte so interessant und
rätselhaft zugleich macht, ist: Hier haben nicht mächtige Interessengruppen
Reformen verhindert. Hier haben nicht Politiker Politik gemacht, die nichts
von Wirtschaft verstehen. So wie Platon einst forderte, Philosophen sollten
das Land regieren, so waren in Neuseeland die Ökonomen an der Macht.
Vielleicht hätte man den Arbeitsmarkt etwas früher liberalisieren
sollen oder den Kapitalmarkt ein wenig später. Ansonsten aber haben die
Neuseeländer alles exakt so gemacht, wie es die ökonomische Theorie
vorsieht, und zwar nicht irgendeine Theorie, sondern die vorherrschende, die
an den großen Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Welt gelehrt
wird. Wie also konnte das passieren?

Roger Douglas, der Mann, mit dem alles begann, ist mittlerweile zum
"Sir" geadelt. 63 Jahre ist er alt, sein Haar ist grau geworden, und
vermutlich würde es ihn freuen, wenn die Leute ihm etwas mehr Dankbarkeit
entgegenbrächten.
Vor einigen Jahren hat er die Labour-Partei verlassen und die
Act-Partei gegründet, eine Gruppierung, die sich ganz der liberalen Idee
verschrieben hat. Bei der vergangenen Wahl erhielt sie nur ein paar Prozent
der Stimmen.
Douglas hat sich aus der Politik zurückgezogen, er ist jetzt oft im
Ausland, hält Reden oder berät Regierungen, die ihr Land verändern wollen.
Er leugnet gar nicht, dass mit dem Land manches nicht zum Besten steht. Er
sagt, was fehle, seien weitere Reformen.

Weitermachen! Jetzt nicht aufhören, sagen auch die Vertreter
internationaler Institutionen wie der OECD. Viele Neuseeländer hören das
nicht mehr so gerne.
Ein Kommentator des New Zealand Herald, der größten Tageszeitung des
Landes, schrieb: "Wir haben es satt, dass unsere Denkfähigkeit beleidigt
wird von diesen anmaßenden Bürschchen, die sich Ökonomen nennen, uns im
Auftrag von irgendwelchen Finanzinstitutionen mit ihren simplistischen
Rezepten kommen und ihre Prognosen abgeben, die fast immer falsch sind."

Auch Tim Hazledine ist Ökonom, Professor an der University of Auckland
und nur wenige Jahre jünger als Roger Douglas. Im englischen Cambridge hat
er gelehrt und im kanadischen Vancouver, vor acht Jahren kehrte er zurück,
sah zu, wie sich sein Heimatland veränderte, und fing an, Fragen zu stellen.
Schließlich hat er ein Buch geschrieben.

Es trägt den Untertitel "Die Ökonomie des Anstands". Darin rechnet
Hazledine vor, dass sich in Neuseeland das Verhältnis von Managern zu
Arbeitern vervielfacht hat. Offensichtlich sind diese Manager nötig, damit
die Arbeiter tatsächlich tun, was sie tun sollen, aber effizient ist das
nicht, und früher hat man sie nicht gebraucht. "Vielleicht", sagt Hazledine,
"braucht eine funktionierende Marktwirtschaft weniger liberalisierte Märkte
als Vertrauen und Loyalität." Und: "Vielleicht hat die Liberalisierung
dieses Vertrauen zerstört."

Hazledine hat diesen Ansatz nicht erfunden, er stammt ursprünglich von
dem kanadischen Soziologen James Coleman, der schon vor zehn Jahren das
Konzept des Social Capital entwickelte, womit er meinte, dass nicht nur
Maschinen oder technisches Wissen ökonomisch wertvoll sind, sondern auch
sozialer Zusammenhalt.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Arthur Okun hat das
einmal als den "unsichtbaren Handschlag" bezeichnet, aber natürlich ist auch
das wieder nur eine hübsche Metapher für etwas, das plausibel klingt, aber
deshalb nicht wahr sein muss.

Was also ist wahr? "Wahr ist", sagt Tim Hazledine, "dass wir nicht
wissen, warum manche Ökonomien um so vieles reicher sind als andere oder
warum manche um so vieles schneller wachsen als andere."
Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Robert Solow hat diese
Wissenslücke schon vor Jahrzehnten beschrieben. Die Neue Wachstumstheorie
hat versucht, die Lücke zu füllen, viel kleiner ist sie dadurch nicht
geworden, aber alle Zweifel wurden weggespült von den ökonomischen Dogmen
und Leitsätzen, die in den vergangenen Jahren die Welt überschwemmten. Und
schließlich nach Neuseeland kamen.

Vor 16 Jahren kam die Freiheit nach Neuseeland, und vor einem Jahr
haben die Neuseeländer eine neue Regierung gewählt, die der Meinung ist,
etwas weniger Markt sei vielleicht gesünder für das Land.
Es ist nicht so, dass diese nun alle Reformen zurücknimmt. Den
Spitzensteuersatz hat sie von 33 auf 39 Prozent erhöht, den Arbeitsmarkt
rereguliert, es gibt jetzt wieder Tarifverträge. "Closing the Gap", "die
Ungleichheit verringern", heißt der Slogan, mit dem die Regierung ihre
Politik verkauft.
"In der Vergangenheit sind wir von einem Extrem ins andere gefallen",
sagt Michael Cullen, und er sagt das im siebten Stock des Betonbienenkorbs,
in seinem Arbeitszimmer. Cullen ist der neue Finanzminister. "Wir versuchen
jetzt, einen Mittelweg zu finden", sagt er.
Einen Mittelweg, für den es keine rechte ökonomische Theorie gibt,
aber das kümmert Cullen nicht so sehr. Sie versuchen es eben. In Neuseeland
regieren jetzt wieder Politiker.






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