Re: Welle-Teilchen-Dualismus


[ Zauberspiegel Wissenschaft Ideenfabrik ]


Geschrieben von Traumdeuter am 05. Mai 2003 12:40:50:

Als Antwort auf: Welle-Teilchen-Dualismus geschrieben von Theo am 05. Mai 2003 12:09:54:

Kultur & Technik 2/99 - Leseprobe: Weltbilder im Umbruch





WELTBILDER IM
UMBRUCH

Wie
Quantensprünge das Bild der Welt verändert haben


Von Hans-Peter Dürr


 







Die Erkenntnisse der modernen
Physik ließen die klassischen Weltbilder ab etwa 1920 zu Auslaufmodellen
werden. In der Vortragsreihe "Wissenschaft für jedermann" am Deutschen
Museum hat der international vielbeachtete Elementarteilchenphysiker
Hans-Peter Dürr dargelegt, wie sich das Bild der Welt einem Quantenpysiker
darstellt. Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des
Vortrags.

Weltbilder sind für uns wichtig, weil sie auch
unser Selbstbild verändern. Es ist deshalb wichtig, diese Weltbilder
genauer anzuschauen – nur dann verstehen wir uns selbst. Aufgrund der
neuen quantenphilosophischen Sicht der Welt ist der Mensch ein Teil der
Natur und kein unabhängiger objektiver Beobachter außerhalb von ihr. Natur
sollte man übrigens besser mit Schöpfung umschreiben. Sie ist nämlich
nichts Statisches, nichts Festes, sondern etwas, was dauernd entsteht und
sich weiter entwickelt.


Wir haben in unserer Sprache sehr viele Worte
eingeführt, um zu beschreiben, was sich verändert. Wir sprechen unter
anderem von Entfaltung und Entwicklung. Dies alles sind Begriffe, die dem
alten Weltbild angehören: Es gibt etwas, das eigentlich nur ausgewickelt
oder eingewickelt wird. Man macht es einfach nur sichtbarer. Dabei wird
doch in jedem Augenblick etwas neu geformt, neu geschaffen. Die Zukunft
ist gewissermaßen offen, sie kann sich auf ganz verschiedene Art und Weise
"entwickeln".


Diese neue Auffassung, die im wesentlichen in
den 20er Jahren dieses Jahrhunderts gefunden wurde, hatte zunächst
ungeheure Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Selbst die, die für
quantenphysikalische Arbeiten den Nobelpreis bekommen haben, Max Planck
für seine Entdeckungen noch 1900, Albert Einstein für den
photoelektrischen Effekt, Erwin Schrödinger für die Wellentheorie – um nur
drei zu nennen – haben die Quantenphysik als ein Durchgangsstadium
empfunden, aus dem man schnell herauskommen könnte. Der Quantenaspekt ist
gar nicht so entscheidend dabei. Wichtiger ist der holistische Aspekt, der
die alte analytisch fragmentierende Vorstellung von der Welt abgelöst hat.


Zunächst einmal die Frage: Was können wir
wissen? Wir wissen, daß unsere Vorstellungen, unser Weltbild sehr von
Naturwissenschaft und Technik geprägt sind. Wir haben ein ungeheures
Wissen angesammelt über die Wirklichkeit. Doch was ist die Wirklichkeit?
Da fängt es schon an.


Für den Physiker ist die Wirklichkeit dasselbe
wie die Welt oder die Natur. Der wesentliche Punkt ist der, ob wir in
diesen Wirklichkeitsbegriff den Menschen einbeziehen oder ihn außerhalb
lassen, weil wir glauben, er sei etwas total anderes.


Naturwissen ist auch wichtig, weil wir mit ihm
Technik machen können. Wissen ist also nicht nur etwas Philosophisches,
Wissen ist Macht. Wer Wissen hat, der kann auch manipulieren und Macht
ausüben. Damit das möglich ist, ist eine gewisse Struktur dieser
Wirklichkeit notwendig, die zu "Machenschaften" Anlaß gibt.


Was ist nun die Beziehung von Wissen, oder
verschärft: naturwissenschaftlichem Wissen zur eigentlichen Wirklichkeit,
die dahinter steht? Ist beides identisch oder nicht? Ich meine, im Prinzip
ist die Wirklichkeit (wir werden sicher noch viel dazulernen) erkennbar.
Ist sie aber auch mit dem Werkzeug erkennbar, das wir anwenden? Vielleicht
ist das gerade nicht der Fall. Vielleicht ist einiges dabei, das man
schlecht wissenschaftlich fassen kann und das man dann oft mit dem
Geistigen umschreibt. Sicher kann man die äußeren Formen des Geistigen
auch wieder wissenschaftlich behandeln, aber nicht das Eigentliche
dahinter.


FISCHE IM GEDANKENNETZ DES
PHILOSOPHISCHEN NATURWISSENSCHAFTLERS


Um das anschaulicher zu erläutern, möchte ich
auf ein Gleichnis des englischen Astrophysikers Eddington zurückgreifen,
das er in seinem Buch The Philosophy of Physical Science 1939
verwendet hat: Eddington vergleicht den Naturwissenschaftler, oder wir
können auch sagen, uns selber, als wissenden und nach Wissen suchenden
Menschen mit einem Ichthyologen, einem Fischsachkundigen. Er ist ein
Fischer, der aufs Meer hinausfährt und Fische fängt. Nach jahrelangem
Fischen kommt er zu den zwei Grundgesetzen der Ichthyologie:


• Gesetz Nr. 1: Alle Fische sind größer als
fünf Zentimeter.


• Gesetz Nr. 2: Alle Fische haben
Kiemen.


Er nennt das die Grundgesetze der Ichthyologie,
da er sie bei jedem Fischzug bewahrheitet findet. Auf dem Nachhauseweg
trifft er seinen besten Freund – nennen wir ihn den Metaphysiker – und
erzählt von seiner großen wissenschaftlichen Entdeckung. Der Metaphysiker
hört sich das an und sagt: Dein zweites Grundgesetz könnte vielleicht
eines sein, aber dein erstes ist es nicht. Wenn du die Maschenweite deines
Netzes gemessen hättest, hättest du festgestellt, sie beträgt fünf
Zentimeter.


Unser Ichthyologe ist überhaupt nicht
beeindruckt davon; er sagt: Entschuldige, in der Ichthyologie ist ein
Fisch definiert als etwas, was ich mit meinem Netz fangen kann; was ich
nicht fangen kann, ist kein Fisch.


Das ist eine Parabel, wie Sie sehen, die
charakterisieren soll, wie wir Wissenschaftler vorgehen. Wir brauchen
alle, um unseren Fischfang zu machen, ein Netz. Das Netz in unserem Fall
ist nicht einfach nur die Methode, die wir verwenden, die in guten
Experimentierhandbüchern steht – wie sieht ein gutes Experiment aus, wie
muß es durchgeführt werden? –, sondern vor allem die Art und Weise unseres
Denkens. Unser Denken hat nämlich eine bestimmte Struktur.
Wissenschaftliches Denken heißt immer zerlegen, analysieren,
fragmentieren, das heißt das Netz, das wir verwenden bei all unseren
Entdeckungen, ist fragmentierendes Denken. Nur das, was in dieses Schema
hineinpaßt, können wir erfassen.


Besonders schwierig wird es, weil die meisten
glauben, sie brauchen kein Netz. Sie betrachten doch die Natur, wie sie
ist. Es gibt keine Netze. Das ist so ähnlich, als wenn wir sagen, es gebe
keinen blinden Fleck im Auge. Wer hat diesen blinden Fleck in seinem Auge
schon gesehen? Niemand, obwohl wir ihn natürlich haben. Unser ganzes Leben
lang haben wir um diesen Fleck herumgedacht. Unsere Bilder hatten niemals
Löcher. Das heißt, unser Netz sehen wir nicht, weil wir es immer benützen!
Was wir ständig benützen, setzen wir voraus und nehmen dabei an, daß jeder
dasselbe sieht, die ungeschmälerte Wirklichkeit.


Das, was wir Wirklichkeit nennen, ist also das,
was sich zwischen uns und der Wirklichkeit abspielt, nachdem dieser Filter
passiert wurde. Wir sollten also immer fragen: Welcher Filter wurde
verwendet, wenn uns jemand eine Beschreibung der Wirklichkeit vorsetzt.
Dieser Filter siebt übrigens nicht nur heraus – wie das Netz des Fischers
– sondern verändert auch die Wirklichkeit. Unsere Wahrnehmung von der
Wirklichkeit, auch die wissenschaftliche Wahrnehmung in ihrer verschärften
Form, gleicht mehr einem Fleischwolf. Oben wird die Wirklichkeit
hineingestopft und vorne kommen die Würstchen heraus. Die ganze Welt ist
also aus "Würstchen" zusammengesetzt. Das hat mit der eigentlichen
Wirklichkeit nichts mehr zu tun.


UNIVERSELLE INFORMATION
AUS DEM STRAHLUNGSFELD


Daß wir filtern, sollte eigentlich klar sein.
Wir wissen, daß wir mit unseren Sinnen nur gewisse Dinge wahrnehmen.
Stellen Sie sich zum Beispiel das elektromagnetische Feld unmittelbar um
Sie herum vor. Ein Feld nur, ein einziges Feld, ein elektromagnetisches
Vektorfeld – darin steckt die ganze Information, die aus dem Weltall
kommt, von den Sternen, Galaxien – aber auch die Information, die von
unten kommt, wie die g-Radioaktivität, die Wärmestrahlung. Auch das Licht
steckt drin, alle Fernseh- und Radioprogramme und was man mit den Handys
heute so anrichtet. Das sind nicht einzelne Pakete von Dingen an
bestimmten Orten, sondern ein einziges Feld, dessen Form alle
verschiedenen Aspekte der Dinge sozusagen widerspiegelt.


Um einzelne Teile herauszuholen, zum Beispiel
unser Handy zu nehmen und zu wählen, sieben wir aus diesem einen Feld eine
ganz gewisse Form heraus, eine Struktur, wir nennen das auch Wellenlänge.
Wir wissen dabei, daß wir mit verschiedenen wissenschaftlich-technischen
Geräten diese Beschränkungen auf ein anderes Fragment erweitern können.
Das ist also eine Grenze der wissenschaftlichen Wahrnehmung, es ist eher
das, was die Engländer frontier nennen, eine Grenze, die man
immer wieder überschreiten kann.


Die absolute Grenze wird dagegen festgelegt
durch unser Verständnis von Wissenschaft, das ja gerade diese
Fragmentierung beinhaltet. Auch das möchte ich an einem Gleichnis
verdeutlichen. Es hat mehr mit den verschiedenen möglichen Paradigmen zu
tun. Aber ein Stück geht es doch auch tiefer: in Richtung Unterscheidung
von Substanz und Form. Betrachten Sie das Gitter auf der linken Seite und
beschreiben Sie, was Sie hier sehen!


Es gibt da zwei verschiedene Möglichkeiten. Die
eine bevorzugen wir in unserer westlichen Kultur: Wir sehen Punkte, die
durch Linien verbunden sind. Damit geben wir der Substanz, der Materie ein
größeres Gewicht. Was wir begreifen können, wirklich mit der Hand
"begreifen" können, ist das, was man in die Hand nehmen kann. Das steht
miteinander in Wechselwirkung. Diese Wechselwirkung wird gewissermaßen
durch die Linien ausgedrückt. Auf diese Weise komme ich zum Gitter.


Umgekehrt könnte man zuerst die Linien sehen,
die sich aber in Punkten schneiden. In diesem Fall ist die Beziehung das
Primäre. Wenn die Beziehungen sich überlagern, kommen wir zu etwas, was
"begreifbar" wird. Dies ist eine total andere Betrachtungsweise. Auch in
der Physik kann man solche Betrachtungsweisen durchführen, wir nennen das
die X-Raum-Beschreibung beziehungsweise die K-Raum-Beschreibung.


K-Raum-Beschreibung ist so etwas wie ich es mit
dem Wellenfeld um uns herum erläutert habe; die Einstellung von
Wellenlängen am Handy oder Radio erschließt die Information. Das Feld wird
auf seine Form hin untersucht, nicht auf seine räumliche Struktur.


Wir wollen noch einmal zu unserem Bild mit dem
Fischernetz zurückkehren: Wir haben damit Fische über fünf Zentimeter
Länge gefangen. Das ist also das, was wir begreifen können.


Nun wird aber nicht beschrieben, was ein Fisch
ist. Der Fischer sagt nur, es ist fünf Zentimeter groß, also ist es ein
Fisch. Er erklärt auch nicht, was ein Stück Holz ist, das ich z.B. als
Meterstab verwende. Wir erfahren nur, daß Holz und Fisch eine Beziehung
haben, die in der Relation fünf besteht. Das ist die Aussage, die wir
scharf fassen können. Wir nennen das eine Messung. Es kommt etwas heraus,
was ich durch eine Zahl ausdrücken kann. Exakte Naturwissenschaft kann
also Natur durch Zahlen fassen und durch Mathematik beschreiben. Sie sagt
damit nicht, was etwas ist, sondern nur, wie es ist. Das sieht für viele
wie eine schreckliche Einschränkung aus. In der Tat ist aber in der
Struktur, in der quantitativen Beziehungsstruktur sehr viel von der
Substanzstruktur enthalten. Deshalb kommen wir mit dieser Art von
mathematischer Beschreibung so wahnsinnig weit.


VOM "BEGREIFEN" DESSEN,
WAS WIRKLICHKEIT IST


Unser Fischgleichnis reicht nun noch weiter.
Wenn jemand dem Fischer entgegnen würde, seine Definition eines Fisches –
als Objekt, das mit seinem Netz fangbar ist – sei doch ein bißchen
willkürlich, dann könnte er antworten: Ich trage den Fisch jeden Morgen
auf den Markt, und noch nie hat mich jemand nach einem Fisch gefragt, den
ich nicht fangen kann. Die Wirtschaft ist selbstverständlich nur an
Fischen interessiert, die man fangen kann. Jetzt verstehen wir auch, warum
das, was die Wissenschaft "begreifbar" macht, in der Anwendung so gut
umsetzbar ist. Es ist tauschfähig! Und wenn etwas tauschfähig ist, dann
haben wir eine einfache Methode, uns zu verständigen.


Es ist schon etwas wert, wenn ich etwas auf den
Tisch legen kann und sagen kann: Wer das nicht glaubt, kann es hier selber
"begreifen". Auf diese Weise kann man sich einfach verständigen. Aber
damit opfere ich all das, was ich nicht "fangen" kann. Und das meiste, was
nicht durch unseren fragmentierenden Verstand, durch unsere begriffliche
Sprache zu fassen ist, ist eigentlich wichtiger. Denken wir an Liebe oder
Treue oder irgend etwas anderes, was in unserem Leben eine große Rolle
spielt. Das sind alles Fische, die kleiner als fünf Zentimeter sind! Auch
alle Religion ist – in meiner Sprache – etwas, was nie in Konflikt mit
Naturwissenschaft gerät, weil es sich auf Fische bezieht, die kleiner als
fünf Zentimeter sind.


Inwieweit können wir nun alles, was nicht
"begreifbar" ist, dennoch zur Grundlage einer Verständigung machen? Unser
Wahrheitsbegriff wurde im 19. Jahrhundert mit Objektivierung
identifiziert. Was objektiv "Tatsache" ist, ist auch wahr, und was wir nur
subjektiv erfassen können, ja, das ist unsere Privatmeinung …


Die moderne Physik hat gezeigt, daß es diese
Objektivität nicht gibt, zum Beispiel die "Tatsache" Elektron. Wenn wir
versuchen, das Elektron wissenschaftlich zu erfassen, zu messen, stellen
wir fest, daß es einerseits wie ein Teilchen aussieht und andererseits
mehr wie eine Welle. Was ist es denn nun "wirklich"? Man hat sich darüber
jahrzehntelang gestritten. Die Antwort lautet: Es ist sowohl als auch,
oder keines von beiden. Je nachdem, welches Netz wir verwenden, bekommen
wir das eine oder andere Bild.


Was sind unter diesen Voraussetzungen "evidente
Ordnungsstrukturen"? Eine evidente Ordnungsstruktur besteht darin, daß
Dinge im Raum sind, daß wir einen Raum haben, in dem sich Dinge aufhalten.
Das ist die eine – dreidimensionale – Struktur. Aber wir haben noch eine
wichtigere Struktur. Das ist die Zeitstruktur. Die Wirklichkeit, so wie
sie sich uns darstellt, hat nicht nur drei Raumdimensionen, sondern auch
eine Zeitdimension.


DAS KARTENHAUS
NATURWISSENSCHAFTLICHER ERWARTUNGEN


Auch das soll ein Gleichnis erläutern. Denken
Sie sich die Wirklichkeit in der traditionellen Vorstellung als einen Stoß
von Spielkarten. In jedem Augenblick ist eine Karte aufgedeckt: Das ist
die augenblickliche Gegenwart. Nehmen wir an, es ist ein Herz-As. Im
"nächsten Augenblick" wird es zugedeckt, wir haben eine neue Karte, eine
neue Gegenwart. Und die Vergangenheit existiert nur noch im Kopf. Die
traditionelle Wirklichkeit präsentiert sich also als Kartenstoß mit einem
Stapel Vergangenheit, einem Stapel Zukunft und dazwischen einer Karte
Gegenwart.


Was macht nun der Naturwissenschaftler? Er
schaut sich jede aufgedeckte Karte genau an. Nun könnte zum Beispiel nach
dem Herz-As wieder eine Herz-Karte folgen, eine Herz-4 etwa, dann eine
Herz-5. Jetzt dämmert es ihm. Er hat ein Naturgesetz entdeckt: Die Welt
besteht aus Herzen, die in jedem Augenblick um eines zunehmen. Das ist
eine ganz gute Hypothese. Sie erlaubt eine Prognose: Herz-6 muß die
nächste Karte sein. Und wenn sie kommt, dann sagt er es seinen Kollegen.
Dann ist er schon nobelpreisverdächtig. Und spätestens beim nächsten Mal,
wenn wirklich die Herz-7 folgt, bekommt er den Nobelpreis.


Und dann geht es weiter, im günstigsten Fall
folgen Herz-8, Herz-9, Herz-10.Und jetzt auf einmal geht es schief! Jetzt
brauchen wir einen Einstein, der sagt, wenn es mehr als 10 ist, dann muß
die Theorie grundsätzlich geändert werden. Auf diese Weise werden also
Naturgesetze verfeinert. Wir fangen erst einmal einfach an, probieren die
einfachen Gesetze aus, bis wir Schiffbruch erleiden, und dann kommt eine
Modifikation. Aber was passiert, wenn gar die Herzen aufhören und ganz
andere Karten wie die Kreuze beginnen?


In dieser traditionellen Vorstellung von
Wissenschaft ist der Mensch – gleichzeitig als Erkenntnissubjekt und
-objekt – mit enthalten. Was nützt aber jede Anstrengung, objektives
Wissen zu finden, wenn sozusagen vorprogrammiert ist, wo ich als Subjekt
Schreckliches anstelle. Und deshalb ist es auch verständlich, daß man sich
den Menschen außerhalb der Natur vorstellte, das heißt außerhalb des
Kartenstoßes.


Der Kartenstoß ist natürlich ein zu sehr
vereinfachtes Bild. Herzen sehen ja recht einfach aus. Die Welt ist aber
viel komplizierter. Sobald ich genau weiß, wie die Welt aussieht und wenn
ich alle Naturgesetze kenne, dann kann ich vorhersagen, wie eine Sache
weitergeht. Aber die Welt kennen wir selbstverständlich nicht so genau.
Und deshalb sagen wir, wenn unsere Prognose nicht stimmt, bestimmte
Details hätten wir nicht gesehen.


Damit verdienen wir Wissenschaftler unsere
Brötchen. Wenn etwas nicht klappt, muß ein Superexperte her, der noch
genauer schaut, damit die nächste Prognose wirklich sicher ist.


Die Frage ist: Können wir Sachen beliebig genau
erkennen? Das ist schwierig. Nehmen wir zum Beispiel das
Gravitationsgesetz. Wir haben alle in der Schule gelernt, daß das
Gravitationsgesetz unter anderem aussagt, alle Körper fallen gleich
schnell. Unabhängig von ihrer Größe, dem Gewicht, dem Material. Wenn ich
aber nun ein Stück Papier und ein Messer fallen lasse, dann kann ich noch
so genau hinsehen. Sie fallen nicht gleich schnell zu Boden. Und da sagen
die Physiker nun: Ja, da gibt es gewisse Bedingungen. Sonst gilt das
nicht. Zum Beispiel muß Vakuum herrschen. Wenn wir uns den Fall des
Papiers wirklich genau ansehen, werden wir feststellten, daß das
Fallgesetz für diesen Versuch überhaupt nicht berechenbar ist. Das ist ein
sogenannter chaotischer Prozeß.


Jetzt kann ich aber Papier nehmen und es
zerknüllen, so lange, bis es so kompakt ist, daß es wie das Messer fällt.
So gehen wir also beim wissenschaftlichen Erkennen vor. Wir nehmen Systeme
und zerknüllen sie so weit, bis sie unseren einfachen Gesetzen folgen. Wir
machen das allerdings schon ein bißchen intelligenter. Wir verändern die
Form solange, bis die Turbulenzen so klein sind, daß kein chaotisches
System entstehen kann.


Die Wirklichkeit, mit der wir uns in der
Technik umgeben, ist nicht die volle Wirklichkeit, sondern eine
vereinfachte Wirklichkeit. Ich umgebe mich nur mit Systemen, die so
"natürlich" sind, daß ich sie auch verstehen kann. Ich möchte schließlich
kein Auto haben, das sich so verhält, wie dieses fallende Blatt Papier.
Oder noch böser formuliert: Wir umgeben uns mit Eigenprodukten, die so
primitiv sind, wie wir selber denken. Am Schluß haben wir den Eindruck,
daß die Natur nichts anderes ist als dieses
Eigenprodukt.


Was heißt das für unser klassisches Weltbild?
Wenn ich unseren Kartenstoß genauer untersuchen will, fange ich an,
zwischen komplizierten und einfachen Systemen zu unterscheiden. Ich habe
also die Hoffnung, wenn ich fragmentiere, auch immer kleinere Teile wähle,
schließlich bessere Vorhersagen treffen zu können. So könnte man zum
Beispiel eine Spielkarte in Farbpunkte auflösen und dann beobachten, was
mit jedem Punkt geschieht. Das ist das atomistische Weltbild: Die Welt
besteht aus kleinen Teilen, die dann nicht mehr weiter zerlegbar sind.
Wenn sie nicht weiter zerlegbar sind, brauche ich nur noch ihre Bewegung
zu betrachten. Die Bewegung der Atome hat man das genannt. Die ganze
Veränderung der Welt besteht im Wesentlichen darin, daß diese Teilchen
sich neu mischen.


DIE WELT ALS
MATRJOSCHKA-PUPPE


In dieser Vorstellung können wir uns die Welt
als Nylonfaden denken. Jeder Nylonfaden ist sozusagen Zeitspur eines
Teilchens. Selbst wenn ich einen sehr vereinzelten Nylonfaden nehme,
gelten als Verwicklungsgesetze die Naturgesetze. Und wenn ich den Faden an
einem einzigen Querschnitt kenne, kann ich im Prinzip nach vorne und
rückwärts rechnen und wissen, was in der Vergangenheit war und was in der
Zukunft passieren wird.


Wir können dieses traditionelle Weltbild auch
mit einer Matrjoschka-Struktur vergleichen, dieser russischen Puppe in der
Puppe. Wenn ich sie aufmache, finde ich im Innern die gleiche Puppe, nur
kleiner. Wann hört das auf? Bei der Matrjoschka ist das klar. Die
Wissenschaft hat hier Probleme. Warum soll es denn beim Atom aufhören?
Weil die unendliche Teilbarkeit nicht vorstellbar ist.


Das Problem ist vor allem unser Denken, unser
Kopf. Der Kopf hat zunächst die Aufgabe, uns in dieser Welt zu
orientieren, unsere Umwelt zu "begreifen", also zum Beispiel, unsere Hand
zu dirigieren, um den Apfel am Baum zu finden, der uns ernähren kann. Und
jetzt will dieser Kopf auf einmal Atomphysik machen. Kein Wunder, daß
dabei die Atome einfach kleine Äpfel werden. Sehr kleine sozusagen, wir
nennen sie Elementarteilchen. Wir können augenscheinlich gar nicht anders,
auch unsere Sprache ist begrifflich darauf festgelegt.


Die moderne Version von der
Matrjoschka-Struktur sind übrigens Fraktalfiguren. Diese Figuren zeigen,
wie etwas total Triviales sehr kompliziert aussehen kann. Ihr einfaches
Gesetz lautet: Dieselben Figuren kommen immer wieder eine Stufe kleiner
vor. Auch wenn wir schließlich mit dem Mikroskop hinschauen, entdecken wir
immer wieder dasselbe. Der Philosoph Nietzsche hat einmal gesagt: Erkennen
heißt, etwas Bekanntes wieder zu entdecken. Das war vielleicht der Grund,
warum man das Atom am Anfang unseres Jahrhunderts, am Beispiel der
Himmelsphysik, als Planetensystem gedacht hat mit Elektronen, die um einen
Kern kreisen. Und vielleicht war auf einem dieser Elektronen sogar ein
kleiner Mensch und dachte gerade darüber nach, wie es weiter oben in der –
für ihn – Makrowelt aussieht.


Und dann die große Quanten-Überraschung, der
totale Umbruch solcher Matrjoschka-Physik. Nehmen Sie als Beispiel ein
Elektron, ein Elementarteilchen des Atoms. Wir sprechen dabei weiter in
Äpfeln und Planetensystemen, anders geht es auch wohl nicht. Wenn dieser
Mikro-Apfel sich in der klassischen Vorstellung von Punkt A nach B bewegt,
muß ich das in der Quantenmechanik ganz anders beschreiben. Das, was wie
ein Elektron aussieht, erzeugt um sich ein Feld, das nennen wir
Erwartungsfeld. Dieses Erwartungsfeld entwickelt sich in die Zukunft wie
eine Welle, und dann gerinnt gewissermaßen, an einem anderen Ort ein neues
Elektron. Das messe ich. Zwischen den beiden Orten ist überhaupt nichts
gelaufen. Das Elektron ist vielmehr an einem Ort verschwunden und neu an
einem zweiten entstanden.


Das heißt: Entwicklung der Welt in der Zeit
heißt nicht, daß alle Substanz mit sich selbst gleich bleibt. Sondern es
wird für jedes Objekt eine Art Wellenfeld aufgebaut, an dem übrigens nicht
nur dieses Objekt, zum Beispiel unser Elektron, beteiligt ist, sondern die
ganze Welt. Die ganze Welt erzeugt ein Wellenfeld und darin an bestimmter
Stelle auch ein Elektron. Das Elektron ist dabei eine Überlagerung von
Wellen, wir nennen das ein Wellenpaket. Aber das ist ein Wellenpaket, das
keine scharfe Umrandung hat, sondern sich bis an das Ende des Universums
erstreckt. Natürlich wird es nach außen sehr viel schwächer, aber es
erfüllt den ganzen Raum. In der Richtung, in der – klassisch gesprochen –
das normale Elektron läuft, prägt sich dieses Feld nur besonders ein.


Wenn wir Materie zerlegen, stellen wir fest,
daß am Schluß keine Materie übrigbleibt, sondern nur noch Form. Form ist
für uns aber etwas, was Substanz braucht. Wie kann am Anfang Form ohne
Substanz sein? Form heißt in diesem Fall Beziehungsstruktur, es heißt
auch: Nicht nach außen abgeschlossen. Eine Beziehung ist immer etwas
Offenes, mit der ganzen Welt kommunizierend, eine Art holistische
Struktur.


So schwierig es scheint, sich die Form als das
Wesentliche vorzustellen und nicht die Substanz, so wenig erstaunlich ist
das andererseits: Betrachten Sie etwa eine Schallplatte, mit einer
Bachschen Fuge oder einer Symphonie. Eine einzige lange gewundene Rille
enthält alles. Die Form der Rille bestimmt die ganze Symphonie, mit allen
Instrumenten mit ihren Obertönen. Sie können diese Form auch auf eine CD
nehmen, oder Sie können sie als Schwingungsfeld in den Raum senden. Es ist
dieselbe Musik, nur der Träger ändert sich. Der Träger ist also nicht
wesentlich, wichtig ist die Gestalt.


DIE WELT IST NICHT MEHR
ALS EIN WÜRFELSPIEL?


Wie können wir nun mit dieser neuen
Wirklichkeit richtig umgehen? Die Physiker haben dafür ihre umständliche
Mathematik. Wir verstehen nicht mehr, was sie tun, aber wir können damit
umgehen.


Ich will das erläutern. Die Quantenmechanik
sagt aus, daß wir nicht mehr genau wissen, was in der Zukunft passiert,
sondern nur noch, mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas zu erwarten ist. Es
ist wie beim Würfelspiel: Da kann ich sagen, jede Zahl des Würfels kommt
mit der Wahrscheinlichkeit 1/6 vor. Das heißt, alle Zahlen kommen gleich
oft vor. Noch einfacher ist es bei einer Münze. Eine Münze hat 2 Seiten,
da gibt es also nur Kopf oder Wappen.


Wie drücke ich aus, daß Kopf und Wappen mit
gleicher Wahrscheinlichkeit fallen können? Dazu beschreibe ich auch nicht
mathematisch, was eine Münze ist, sondern drücke nur das Ergebnis von
vielen Münzwürfen aus: zum Beispiel durch einen Pfeil der Länge 1 als
Diagonale in dem Diagramm auf der rechten Seite. Die Hauptdiagonale gibt
an, daß die zwei Wahrscheinlichkeiten gleich sind. Die beiden Projektionen
auf die Achsen zeigen das – ihr Quadrat gibt die beiden
Wahrscheinlichkeiten und ist jeweils 1/2. Statt von einer Münze oder einem
Würfel und seiner Substanz zu sprechen, bespreche ich, was beim "Würfeln"
mit ihnen passiert.


Statt von "Substanz" zu sprechen, können wir
jedem physikalischen System, auch unserer Welt, einen Pfeil der Länge 1
zuordnen. Der Raum ist dann allerdings nicht mehr zweidimensional, sondern
unendlichdimensional, also ein ganzes Stück komplizierter. Aber auch hier
gibt die Neigung des Pfeils an, welche Veränderungstendenzen
vorliegen.


MATERIE ENTSTEHT IN JEDEM
AUGENBLICK NEU


Gehen wir nun zurück zu unserem Kartenspiel und
wenden unsere Überlegungen darauf an. Dieser Kartenstoß existiert gar
nicht. Was am Anfang existiert, wird erst im Augenblick der Gegenwart. Es
existiert als Potentialität, als eine Anlage, sich zu realisieren. Wir
können uns das auch als Brühe vorstellen, die zu einem festen Pudding
gerinnen kann, aber solange sie noch nicht geronnen ist, ist sie eine
Flüssigkeit. Doch enthält sie die Möglichkeiten zu gerinnen.


In jedem Augenblick, in dem in unserem
Kartenspiel eine Karte aufgedeckt wird, wird aus Potentialität – teilweise
– Realität. Es gerinnt etwas. Und das, was geronnen ist, nennen wir
Materie. Materialisierung geht in jedem Augenblick vor sich. Materie
entsteht in jedem Augenblick neu. In jedem Augenblick gibt es neue
Realität. Es ist sehr erstaunlich, daß sich dabei die Welt nicht chaotisch
verändert – aus einem Tisch sofort etwas schrecklich anderes wird.


Aber die Phantasie ist nicht unendlich. Anstatt
jede Karte neu zu malen, kopiert dieser Prozeß einfach, was in der vorigen
Karte war. Und deshalb bekommen wir eine scheinbare Konstanz, nämlich das,
was wir Materie nennen. Materie ist das, was sozusagen keine neuen
Einfälle hat. Der Tisch hat keinen anderen Einfall, als im nächsten
Augenblick wieder dazustehen. Er sagt konstant: Ich bin Tisch, Tisch,
Tisch. Und dann sagen wir, es ist immer derselbe Tisch.


Die Wirklichkeit ist also durchzogen von
einfältigen Strukturen, und die nennen wir Materie. Diese Potentialität
können wir auch mit Vorgängen im Geistigen vergleichen. Das Geistige ist
auch etwas, was nur ganzheitlich vor sich geht, was nicht faßbar, nicht
ausgedehnt ist. Wenn Sie Vorstellungen in Ihrem Geist haben, sind die
unendlich reich, bevor Sie darüber nachdenken. In dem Augenblick, in dem
Sie einen konkreten Gedanken fassen, gerinnen alle diese Vorstellungen zu
einem einzigen Gedanken. Das ist ein Massenmord an Optionen. Jedes Mal,
wenn uns etwas einfällt, gehen ungeheuer viele andere Möglichkeiten
verloren.


So ist das auch in der Natur. Geronnene
Strukturen bleiben in ihrer Form auch im Verlauf der Zeit. So bekommt die
Wirklichkeit im Lauf der Zeit ein Skelett, das materieartig ist. In
gewisser Weise ist die Materie eine Kruste des Geistes, eine Art
verkrusteter Geist. Das Wichtige für uns ist, daß alles, was Kruste ist,
nur noch als Werkzeug geeignet ist und nicht mehr für Gestaltung gebraucht
werden kann. Wenn wir gestalten wollen, müssen wir dort sein, wo noch
nichts verkrustet ist, bevor etwas zu Materie erstarrt ist.


Auch unser Bild mit dem Nylonseil sollten wir
jetzt verändern: In der Zukunft existiert dann eine Flüssigkeit, ein
Nylonbad, aus dem Fäden herausgezogen werden können. Jeder Faden, der
herausgezogen wird, gibt einen Augenblick der Gegenwart wieder. Diese
"geronnene" Materie ist ein versklavtes System, das sich dann gemäß der
klassischen Physik verhält.


Das ist in kurzen Zügen der philosophisch neue
Gehalt der Quantenmechanik. Form kommt vor Materie, die Gestalt der Rille
vor der Schallplatte oder, um die Metapher eines niedergeschriebenen
Gedichts zu nehmen, die Anordnung der Druckerschwärze kommt vor der
Druckerschwärze selbst. Das ist natürlich sehr einleuchtend. Wenn Sie die
Buchstaben mit dem Mikroskop untersuchen, wird Ihnen Wesentliches
entgehen. Hier ist die Beziehungsstruktur sehr schwach, materiell kaum
festzustellen. Aber sie enthält enorm viel Information.


Warum sollen wir uns mit der modernen Physik
auseinandersetzen. Das machen die Elementarteilchenphysiker gut genug. In
unserer Lebenswelt gehen wir ja nur mit den Krusten um. Warum sehen wir in
der Tat so wenig von dieser Offenheit der Mikrowelt, dieser
Unbegreiflichkeit des ständigen Werdens und Vergehens?


Die Mesowelt, unsere Lebenswelt, ist ungeheuer
groß im Vergleich zum Mikrokosmos. 1 Gramm Materie enthält
10
24 – das ist eine 1 mit 24
Nullen – von diesen komischen Dingern, die wir Elementarteilchen nennen.
Solch eine riesige Ansammlung von sich ständig erneuernden Teilen zeigt
diese Eigenschaften vielleicht im großen Verband nicht mehr. Als Bild
können wir eine große Stadt nehmen, etwa New York. Jeder tut in dieser
Stadt, was er will, läuft zum Beispiel in die verschiedensten Richtungen.
Wenn Sie nun alle Bewegungen in New York statistisch beschreiben, passiert
im Durchschnitt fast überhaupt nichts. Für jede Bewegung ist eine
Gegenbewegung da, es mittelt sich alles zu Null.


Wenn sich in dieser Stadt aber
Organisationsstrukturen bilden (stellen Sie sich als Ergebnis einen großen
Demonstrationszug vor), geraten die angelegten Möglichkeiten der
Individuen plötzlich auf eine höhere Ebene und werden auch statistisch
sichtbar.


Bei purer Anhäufung unserer Elementarteilchen
sorgen wir dafür, daß keinem der Teile eine beherrschende Rolle zufällt,
wir durchmischen die Systeme, so gut wie wir es eben können. Dann können
wir daraus Autos und Computer bauen. Im Mikroskopischen – beim Individuum
– gelingt uns das natürlich nicht. Aber wir machen so viel Materie, daß
alles Besondere weggemittelt werden kann.


Das entspricht dem Unterschied zwischen
belebter und unbelebter Materie. Belebte Materie ist die gleiche Materie
wie in der unbelebten Natur, nur anders geordnet. Die unbelebte Materie
ist sozusagen wahllos zusammengewürfelt, ohne Struktur. Aber Materie mit
einer bestimmten Ordnungsstruktur zeigt etwas Besonderes. Wir können
selbstverständlich mit ausgemittelten Systemen besser umgehen, weil sie
total desorientiert sind. Und wie gehen wir mit lebendigen Menschen um?
Wir machen nur teilweise Ausnahmen. Am liebsten ist uns ein Mensch, der
kreativ ist, aber trotzdem genau das macht, was wir wollen!


Ein Pendel dagegen hat den Vorteil, daß es sich
determiniert und vorhersagbar verhält. Es hat nur einen einzigen
Schwingungspunkt, an dem jede Prognose versagt. Das ist der Punkt
senkrecht über seinem Aufhängungspunkt – wenn Sie an eine große
Kirmes-Schaukel denken: beim Überschlag sozusagen. Fällt sie wieder
zurück, oder schwingt sie weiter herum? Das hängt vielleicht davon ab, wie
genau der Punkt getroffen wird? Ist bei immer feinerer Justierung nach
oben eine Prognose möglich? Sie ist es grundsätzlich nicht.


Wenn ich genau oben bin, genügen geringste
Einflüsse, um das Pendel zu bewegen. Es kann sein, daß ein kosmischer
Strahl vom Andromedanebel die eine Pendelseite erwischt. Ich müßte also
den Andromedanebel in meine Berechnung mit einbeziehen und
selbstverständlich mich als Experimentator auch und so weiter. Das heißt:
Am obersten Schwingungspunkt ist das System deshalb nicht
prognostizierbar, weil es mit dem ganzen Universum
kommuniziert.


Ich müßte an diesem Punkt für eine Prognose
alles genau wissen. Ich kann auch sagen: In diesem Fall ist das Pendel ein
höchst sensibles Meßinstrument, mit dem ich die feinsten Dinge sehen kann
– auch die Fluktuation des Werdens und Vergehens von Elementarteilchen,
wie es die Quantentheorie beschreibt. Ich kann die Bewegungsgleichung
dieses Pendelsystems nicht integrieren, weil eine Singularität vorhanden
ist – so einfach dieses System auch ist.


Betrachten wir ein kompliziertes Pendel, ein
Pendel, das eigentlich aus 3 Teilen besteht. Pendel am Pendel am Pendel.
Man nennt es Chaos-Pendel. Das Chaotische an diesem Pendel ist von
gleicher Struktur wie das Chaotische am Singularitätspunkt unseres
einfachen Pendels. Hier gibt es nur unendlich viele Instabilitätspunkte,
das heißt, alle Bewegungen sind unvorhersehbar.


Das stimmt nicht ganz, die Reibung verlangsamt
alle Bewegungen, so daß unser Pendel wieder zur Ruhe kommt. Das ist
prognostizierbar. Aber ohne Reibung könnten wir nach Anstoß des Pendels
nichts mehr vorhersagen. Das Pendel verhält sich vollkommen chaotisch. Wir
nennen das deterministisches Chaos. Das Pendel durchläuft sozusagen
dauernd Instabilitätspunkte. In keinem kann ich vorhersagen, ob es nach
links oder rechts weiterschwingt. Das ist ein offenes System. Es ist nicht
ganz so offen wie ein Lebenwesen. So fängt es nicht an, im Raum
herumzuspazieren. Es bleibt beschränkt auf den Raum, der der Summe der
drei Pendelarme entspricht.


Ein lebendiges System ähnelt in seiner
Grundstruktur unserem Chaos-Pendel. Es ist im Prinzip offen. Sofort
entsteht die Frage: Warum verhalten wir uns vernünftig, wenn unsere
Grundstruktur chaotisch ist? Wir verhalten uns in der Tat nicht wirklich
vernünftig, aber doch relativ vernünftig im Vergleich zu diesem
Pendel.


Das Lebendige unterscheidet sich vom Toten
darin, daß es in der Nähe von Instabilitätspunkten angesetzt ist. Wir sind
also ein sehr wackeliges System. Ich brauche einen äußerst komplizierten
"Mechanismus", um aus der Instabilitätslage des Lebens nicht sofort wieder
in die Stabilitätslage zu fallen. Und das geht erstaunlich gut, nun schon
- angefangen mit dem einfachsten Leben - seit dreieinhalb Milliarden
Jahren. Und wir hoffen, daß wir noch ein paar Jahrzehnte vor uns haben -
vielleicht auch mehr, wenn wir etwas vernünftiger werden! Warum
funktionieren wir so gut? Wie kann aus chaotischen Systemen im Verband
etwas Vernünftiges entstehen?


Wenn man chaotische Teilsysteme miteinander
koppelt und in ein Energiefeld hineinbringt, dann ordnen sie sich wieder.
Auch das ist ein einfaches physikalisches Experiment. Es entsteht eine
neue Struktur. Die Kopplung darf zum Beispiel keine Verschraubung sein.
Dann bekommen wir nur Autos. Wenn wir aber einen Plexiglaszylinder nehmen
und auf seinen Boden einen Tropfen Schmieröl geben, kommem wir etwas näher
an das Problem des Lebens. Schmieröl ist natürlich eine ganz grobe
Veranschaulichung der menschlichen Gestalt. Es ist ein bißchen beweglich,
aber auch ein bißchen zäh. Zähigkeit heißt, die Teilchen haben Verbindung
miteinander, sozusagen Kommunikation.


Nun wird der Tropfen mit einem Kolben
plattgedrückt. Zieht man den Kolben wieder zurück, kann von allen Seiten
Luft einströmen. Die Luft strömt chaotisch in den Tropfen hinein und
verändert die platte Flüssigkeit so, daß eine blattartige Struktur
entsteht. Bei jedem neuen Versuch entsteht eine weitere Struktur, die
nicht identisch mit den anderen ist, aber doch ähnlich. Chaotische
Systeme, miteinander verkoppelt, geben also ähnliche Strukturen. Alle
Menschen sind sich in der Tat ähnlich, aber nicht gleich - Gott sei
Dank.


Natürlich ist das nur ein grober Vergleich aber
er veranschaulicht, wie total anders ein lebendiges System gegenüber einer
noch so komplizierten Maschine ist. Eine Maschine muß fest verschraubt
sein und darf nur ganz wenig Spiel haben, damit sie sich überhaupt bewegt.
Sie ist nur an bestimmten Punkten verkoppelt - denken Sie an Kurbelwellen
usw. Bei einem lebendigen System hängt alles mit allem zusammen und
trotzdem bildet sich durch die Kommunikation eine Struktur. Diese
Strukturen sind flexibel, veränderlich. Das war in der Evolution des
Lebens äußerst wichtig.


Unsere einfache Physik reicht natürlich bei
weitem nicht aus, Leben zu erklären und insbesondere nicht etwas sehr
typisches für den Menschen: seine Willensfreiheit. Ich vermute aber, daß
unsere Gesetze der Physik, soweit wir sie kennen, einschließlich der
Quantenmechanik, auch nur ein Durchgangsstadium sind. Sie werden sicher
noch weiter "aufgeweicht".


Die Gesetzmäßigkeiten, die wir sehen, kommen
eigentlich nur durch Ausmittelung und Angleichung zustande. Naturgesetze
entstehen vielleicht so, wie Gewohnheiten. Gewohnheit ist ja auch eine Art
Angleichung. Aus vielen Möglichkeiten gebe ich mit einer Gewohnheit alle
bis auf eine auf. Das heißt, vielleicht kommen die Naturgesetze selbst
zustande durch Selbstorganisation dieser ungeheuer lebendigen
Materie.


Es gibt noch eine besondere Eigenschaft von
natürlichen Prozessen und das heißt auch von Lebensprozessen: Wie das
Pendel versucht, letztlich den untersten Schwerpunkt als Ruhepunkt zu
erreichen, so versuchen alle Prozesse, immer möglichst stabile Endzustände
einzunehmen. Ein unwahrscheinlicher Zustand geht mit der Zeit in einen
wahrscheinlicheren über. Im Alltag drücken wir das anders aus: Jedes
System löst sich mit der Zeit in Unordnung auf. Das folgt aus dem Zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik: Unordnung (physikalisch: Entropie) nimmt von
alleine immer zu, nie ab.


VON DER UNORDNUNG AUF DEM
SCHREIBTISCH ZUR ORDNUNG DES DENKENS


Das sehen wir jeden Tag an unserem
Schreibtisch. Er wird immer unordentlicher. Wir sind also nicht schuld
daran, sondern ein Naturgesetz. Wenn wir noch mehr arbeiten, merh hin- und
herbewegen, geht es noch schneller.


Als Gegenbegriff zu Entropie verwende ich das
Wort "Syntropie". Für Ordnung, also etwas Positives, sollte man nicht, wie
üblich, Negentropie (= negative Unordnung) sagen. Der Entropie, dem Maß
der Unordnung, steht die Syntropie als Maß der Ordnung gegenüber. Das
heißt: Wir sind doch schuld an der Unordnung auf unserem Schreibtisch: Mit
einer ordnenden Hand könnten wir die Syntropie vermehren. Dazu müssen wir
Energie zuführen, aber auf gescheite Weise. Beim Kartenspiel heißt das:
Nur Energie zuführen, wie etwa beim Mischen, vergrößert die Unordnung. Das
geht schnell.


Zum Ordnen des Spiels brauchen wir mehr Zeit
und Intelligenz. Um Ordnungsstrukturen zu schaffen, müssen wir gegen den
Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik angehen. Das ist nicht unmöglich.
Genau das tat auch die Evolution des Lebens. Die Energiequelle ist die
Sonne. Wenn wir sagen, alles Leben kommt von der Sonne, ist das jedoch nur
teilweise richtig. Die Sonnenenergie, die auf die Erde fällt, wird ja
wieder vollständig in den Weltraum zurückgestrahlt! Sonst würde sich die
Erde immer mehr aufheizen.


Was hängenbleibt auf der Erde, ist nicht die
Sonnenenergie, sondern die Ordnungsstruktur. Das einfallende Sonnenlicht
hat eine höhere Ordnungsstruktur als die Wärmestrahlung; die in den
Weltraum zurückgestrahlt wird. Das hat etwas mit der Temperatur zu tun.
Die Sonne ist eine Syntropie-Quelle, eine Quelle der Ordnung - wie unsere
ordnende Hand auf dem Schreibtisch.


Einfach war dieser Evolutionsprozess des Lebens
zu immer höheren Ordnungstrukturen nicht. Am Anfang standen ganz einfache
chemische Verbindungen, irgendwie schickte die Sonne genügend Energie, und
nach dreieinhalb Milliarden Jahren war der Mensch da. Das Hinaufkommen ist
immer schwierig, wie wir schon am Bergsteiger sehen: Die Gravitation zieht
ihn nach unten. Nur langsam, mit Geduld, Schritt für Schritt, kommt er
nach oben. Herunterfallen geht sehr viel leichter. Die ordnungsstiftenden
Prozesse müssen immer langsam ablaufen. Intelligenz als gewisse Form muß
auf eine andere Form wirken. Neue Ordnungsstrukturen zu schaffen heißt
nicht einfach zu kopieren. Es müssen neue Verbindungen geschaffen werden.
Unter Ordnungsprinzipien verstehe ich im Übrigen nicht sehr regelmäßige
Anordnungen, wie etwa bei einem Kristall. Seine Ordnung ist gerade
besonders primitiv. Wenn wir eine Ecke von ihm kennen, brauchen wir keine
besondere Intelligenz, um zu verstehen, wie der ganze Kristall aufgebaut
ist.


Bei unserer Erbsubstanz, der DNS ist das ganz
anders. Wenn ich von dieser Doppelhelix ein Stück kenne, verstehe ich fast
nichts. Alles ist total unregelmäßig. Genau darin steckt der Witz, das
heißt der Code des Lebens. Auch unsere einfachen biochemischen Modelle
sind noch viel zu primitiv dafür. Ich meine, das müßte viel holistischer
betrachtet werden. Alle Elektronen in der DNS, die Millionen Elektronen
bilden ein großes System, das auch noch andere Beziehungen hat als
Intensitäten und Wellenlängen, nämlich
Phasenbeziehungen.


Um wieder ein einfaches Beisiel zu wählen,
kehren wir zu unserem Gedicht zurück. Auch das hat eine höhere Ordnung,
wie ich es nenne. Wenn ich einen Teil davon sehe, kann ich eben nicht das
Ganze verstehen. Ich muß nämlich Deutsch verstehen und lesen können und
auch etwas über Gedichte wissen, vielleicht sogar über die Zeit, in der es
entstanden ist. Je nach Gemütszustand empfinde ich das Gedicht anders. Das
heißt, das Gedicht und ich, wir haben eine sehr intime Beziehung. Aus
dieser Beziehung wächst das ganze Verständnis. Messen kann man das
nicht.


Betrachten wir einmal des Gedicht verfremdet,
indem wir alle A mit Z vertauschen, alle B mit Y. Vom Informationsgehalt
ist es immer noch identisch mit dem alten Gedicht. Aber für uns wird es
Krautsalat. Wir erkennen schon noch Regelmäßigkeiten, bestimmte Buchstaben
klumpen zusammen, manche Buchstaben kommen auch doppelt vor. Es gibt
einzelne Strophen. Und das kann ich auch alles statisch erfassen. Aber das
Wesentliche ist verlorengegangen.


Genauso sehen wir die Natur. Wir erkennen die
Vielfalt, bestimmte Anordnungen. Aber wir verstehen das nicht. Warum sind
so viele "Buchstaben" nötig? Warum diese Absätze? Kann man das nicht ein
bißchen anders zusammenschreiben? Schauen wir, was der ordnende Geist des
Menschen machen kann.


So sieht es wissenschaftlich geordnet aus: Alle
Buchstaben sind zu identischen Gruppen zusammengefaßt. Wir können uns
brüsten, daß in der Natur so viele N's nebeneinander überhaupt nicht
vorkommen. Wir können neue Formen schaffen - und finden das großartig: zum
Beispiel unsere Technik. Aber von dem Gedicht ist nichts übriggeblieben.
Wir können die Zusammenhangs-Struktur der Natur nicht einfach lesen. Jede
Ordnung, die wir durch unseren Verstand hineinlegen, manipuliert den
eigentlichen Sinn hinaus.


Diesem eigentlichen Sinn ein Stück näher zu
kommen als bisher, das wird vielleicht noch manchen Umbruch in unseren
Weltbildern verlangen.


 


DER AUTOR
Hans-Peter Dürr, geboren 1929, Dr. rer. nat. und
Professor an der Universität München, ist Elementarteilchenphysiker und
Direktor am Werner-Heisenberg-Institut des Max-Planck-Instituts für Physik
und Astrophysik in München. Er gehört dem internationalen Kreis der
Wissenschaftler an, die vor der militärischen Nutzung der Kernenergie
warnen.






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