Selbstreferentieller Eiertanz


[ Zauberspiegel Wissenschaft Ideenfabrik ]


Geschrieben von Emil am 15. August 2006 16:43:20:


Strandlektüre, eine 800 Seiten Biografie des dänischen Philosophen und Schriftsteller Sören Kierkegaard, einem der ersten Meister des Subjektivismus. Doch heute kein philosophischer Tiefgang, sondern eher menschlicher Breitgang. Was es damals nicht schon alles gab. Man denkt ja heute vielfach, das, woran wir heute leiden, wäre alles neu. Doch weit gefehlt. Schon in den 1840er Jahren ging es zu wie bei uns heute.

„Die Masse der Menschen“, schreibt Kierkegaard, „hat natürlich keinerlei Meinung, aber – und nun kommt es! – diesem Mangel helfen die Journalisten ab, die davon leben, dass sie Meinungen verleihen.“ Früher als alle anderen Denker erkennt Kierkegaard hier, wie die Presse davon lebt, dass sie nicht nur über Objektives berichtet, sondern sich ihre eigenen Geschichten selbst schafft: „Sie tut so, als referiere sie den wahren Zustand, und intendiert dazu, diesen zu erzeugen“, schreibt Kierkegaard. Die Wirklichkeit ist also nicht einfach da, sondern sie wird von uns selbst erzeugt. Womit wir nun doch wieder beim philosophischen Tiefsinn angekommen wären.

Deshalb weiter: Den Strandkorb aus der Sonne gedreht und weiter gelesen: „Wehe, wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus heute in die Welt, so wahr ich lebe, er nähme nicht die Hohepriester aufs Korn – sondern die Journalisten.“ Ist das nicht wunderbar? Auch das in den 1840ern geschrieben! Und letztlich wird der ganze Medienrummel so zur selbstreferentiellen Geschichte: „Und gleich wie das Publikum eine reine Abstraktion ist, so wird zuletzt die menschliche Rede es auch; es bleibt niemand mehr übrig, der redet, sondern der Mechanismus der Reflexion scheidet allgemach ein atmosphärisches Etwas aus, welches die menschliche Rede überflüssig macht.“

In diesem Moment tippt mich meine kleine Tochter an. „Pappa, warum heißt das Auto eigentlich Auto? Warum haben alle Sachen einen Namen?“
„Weil es sonst sehr schwierig wäre, sich miteinander zu unterhalten“, versuche ich zu erklären, „dann müsste man jedes Mal anstelle von „Auto“ sagen „das Ding, dass selbständig mit Benzin fährt“.“
„Aber das stimmt doch nicht Pappa“, entgegnet sie, „denn dann könnten wir doch auch nicht „Ding“ und „Benzin“ sagen, dann könnten wir uns überhaupt nicht unterhalten.“
Entgeistert starre ich sie an. Natürlich, sie hat Recht. Was für ein Urlaub. Jetzt werde ich schon von einer Fünfjährigen ausgespielt.

„Pappa, wann gehen wir ins Wasser?“ fragt sie gleich daraufhin weiter.
„In einer halben Stunde“, antworte ich.
„Eine halbe Stunde, ist das viel oder wenig?“

Ich klappe mein Buch zu. Genialität und Nichtbegreifen liegen anscheinend überall sehr dicht beieinander. Wir Erwachsenen sind genial in unserem Spezialwissen, haben jedoch kaum eine Ahnung von den Grundlagen unseres Wissens. Und bei den Kindern ist es genau umgekehrt. Sie leiten alles von Nullpunkt ab und kommen deshalb (noch nicht) in unsere Verästelungen hinein. Ich ziehe mir die Badehose an und überlege mir, was von beidem eigentlich besser ist.

Bernd Niquet, im Juli 2006





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